Gefühle – ein Gedankenstrang

Wenn ich dich frage, in was für einer Situation du dich gerade befindest, könntest du antworten. Deine Antwort wäre deine Interpretation dessen, was du um dich herum wahrnimmst. Du könntest diese Antwort jederzeit geben – mehr oder weniger. Du hast also in jedem Moment eine Interpretation der Situation. Du sammelst quasi die ganze Zeit Datenpunkte (Sinneswahrnehmungen) und wertest sie aus, versuchst sie zu verstehen, zu einem Bild zusammenzufügen. Das läuft natürlich die meiste Zeit unbewusst ab. Sonst wärest du ja ständig damit beschäftigt und könntest sonst über nichts nachdenken.

Gefühle sind Reaktionen auf Situationen. Auf das, was wir wahrnehmen. Wenn unser Verständnis der Situation aber gar nicht direkt die reine Wahrnehmung der Situation, sondern eine zusammengestellte Interpretation ist, dann sind auch Gefühle keine direkten Reaktionen auf das, was uns umgibt oder passiert, sondern auf unsere Interpretation dessen.
Das ist einfach dadurch bewiesen, dass verschiedene Menschen in der gleichen Situation mit völlig anderen Gefühlen reagieren können. Es kann also nicht eine direkte Verbindung zwischen den äußeren Umständen und der emotionalen Reaktion geben. Dazwischen steht unsere Interpretation.

Der Einfluss bewusster Gedanken

Diese Interpretationen sind nicht wie bewusste Gedanken. Sie sind schnell, nicht gesteuert und können schwer zugänglich für die bewussten Gedanken sein. Aber Gefühle reagieren genauso auf bewusste Gedanken, wie auf unsere Situations-Interpretationen. Ich kann über irgendetwas nachdenken, was nichts mit der aktuellen Situation zu tun hat und daraufhin starke Gefühle spüren (bzw. wenn ich mit meiner ganzen Aufmerksamkeit in diesen Gedanken bin, sind diese Gedanken eben die „aktuelle Situation“).

Das alles sind keine mechanischen Prozesse, die so einfach ablaufen wie eine Murmelbahn. Es gibt sicherlich eine Menge Faktoren, die ich noch lange nicht kenne oder verstehe. Ich versuche nur hilfreiche Teil-Erklärungen zu finden.

Gefühle sind also immer Reaktionen auf Gedanken – unbewusste Situations-Interpretationen oder auch bewusste Überlegungen, etc. Da ich mich beim Denken beobachten und die Richtung, Art und Inhalt meiner Gedanken beeinflussen kann, kann ich auch meine Gefühle beeinflussen (weil diese ja darauf reagieren). Mein Bewusstsein ist eine Instanz, die alles beobachten und beeinflussen kann. Das kann hilfreich sein, zum Beispiel, wenn ich beobachte, dass ich Angst spüre, rational verstehe, also bewusst denke, dass es keinen tatsächlichen Grund für diese Angst gibt (zum Beispiel beim Versteckenspielen in einem dunklen Haus) und damit meine eigenen Gefühle auch wieder beruhigen kann.

Ich mache das recht viel. Ich habe schon vor einigen Jahren bemerkt, dass meine Gefühle auf eine Art unabhängig sind von der eigentlichen Situation. Dass ich mich glücklich oder unzufrieden fühlen könnte, nur abhängig davon, wie ich die Situation betrachte und über sie denke.

Ich habe begriffen
Dass es gleich ist
Ob ich in meinem Zimmer sitze
Und meinen Bruder massiere
Oder auf einer spanischen Verander
Zu Gitarrenmusik
Die warme Luft atme


Ich könnte so oder so
Nie vollkommen glücklich sein
Denn in jedem Moment
Empfinde ich Sehnsucht
Nach einem anderen
Oder Wehmut
Nach dem bald
Vergangenen

„Momente“, von mir, 2018

Ich kann auf jedes schwere, unangenehme Gefühl mit einem Gedanken reagieren, der das Gefühl wegdrückt. Ich schreibe an dieser Stelle „wegdrückt“, weil es sich in meinem Fall oft um so ein Verdrängen geht. Ich habe gelernt, dass ich so meine Gefühle beeinflussen kann. Dieser Reaktion ist mittlerweile aber auch schon zu einer Art Automatismus geworden. Sodass ich Gefühle kaum noch zulasse und stattdessen oft direkt versuche sie umzulenken.

Das Verdrängen von Gefühlen

Auch wenn Gefühle keine direkte Reaktion auf die Situation sind und damit manchmal auch völlig unangemessen, haben sie doch ihren Grund, warum sie da sind. Sie sagen immer etwas aus und wollen auch gehört werden. Wenn ich in einem dunklen Raum Angst spüre, aber sofort weiß, dass es keine Gefahr gibt, brauche ich der Angst vielleicht keine Aufmerksamkeit schenken, sondern kann sie direkt mit einem beruhigenden Gedanken wegscheuchen (obwohl auch diese Angst etwas interessantes zu sagen haben könnte, weil nicht alle die gleiche Angst im Dunkeln empfinden. Es könnte etwas über tiefere Unsicherheiten von dir aussagen).

„I measure how sad i am
by how afraid i am of the dark
(rather, i mean, what’s in the dark)
counting heart stops and stomach flops and
every stair creak, when everyone’s asleep
(except me and my head and my shaky hands)

Ausschnitt aus „Haunted“, von Savannah Brown, aus Graffiti (and other poems)

Wenn ich mir aber angewöhne auf unangenehme Gefühle mit Wegscheuchen zu reagieren, dann verweigere ich die Auseinandersetzung mit den Gründen in mir, aus denen ich diese Gefühle spüre.

In anderen Situationen verdränge ich meine Gefühle auch weniger bewusst, nicht durch Gedankentricks, sondern durch Ablenkung. Ich gehe Süchten nach, um mich nicht mit meinen Gefühlen zu beschäftigen, sei es Medien-Konsum, Essen, Beziehungen, Musik hören, etc.

„Alles kann süchtig machen (…), weil es bei der Sucht darum geht, einen Puffer zwischen sich und die Wahrnehmung der eigenen Gefühle zu schieben. Mit fer Betäubung durch die Sucht wird der Kontakt zum eigenen Wissen und Fühlen verhindert..“

Anne Wilson Schaef, in Suchtsystem und Arbeitsplatz. Neue Wege in Berufsalltag und Managment

Warum verdrängen wir Gefühle? Es scheint mir naheliegend, davon auszugehen, dass es einen guten Grund gibt. Warum sonst sollten wir es so gut können? Eine Erklärung könnte sein, dass es nicht in jeder Situation möglich ist allen Gefühlen Raum zu geben. Vielleicht ist es manchmal zu überfordernd, oder nicht ruhig und sicher genug. Ich kann mir vorstellen, das mit dem Verdrängungs-Mechanismus an sich nichts grundsätzlich falsch ist. Die Frage ist nur, warum wir scheinbar den Großteil unserer Zeit meinen unseren Gefühlen keinen Raum geben zu können und verdrängen zu müssen.

Vielleicht lässt es sich historisch erklären, soziologisch, psychologisch. Ich weiß, dass es bei den meisten einfach zu einer Gewohnheit geworden ist. Zu einem festgefahrenen Muster. Einer automatischen Reakion. Gefühl → unangenehm? → wegdrängen! Je mehr Gefühle sich dabei anstauen (weil wirklich wegdrängen, halt doch nicht funktioniert), je größer ist die Hürde sich damit auseinanderzusetzen. Gleichzeitig steigt aber auch der Druck der Gefühle, die ihren Raum einfordern. Dadurch entsteht ein Zustand, in dem ein Mensch ständig beschäftigt ist, damit sich abzulenken. Zu konsumieren, um sich gut zu fühlen. Er braucht immer mehr, kann die Abwesenheit seiner Suchtmittel nicht aushalten, weil dann all das Unangenehme in ihm hochkommt. Unscheinbar wirkende Situationen können starke Gefühle verursachen, weil diese Gefühle aus alten Situationen noch immer in ihm feststecken.

Der gute Umgang mit Gefühlen

Ich denke es ist notwendig sich diese harte Reaktion auf die eigenen Gefühle abzugewöhnen. Sie nicht zu werten, nach gut und schlecht, sondern alle als Botschafter_innen anzunehmen. Ich möchte versuchen mehr in einem weichen, offenen Zustand zu sein. Alles was ich fühle durch mich hindurch fließen zu lassen, anstatt es wegzudrängen, was auch bedeutet es festzuhalten. Loslassen ist etwas anderes als wegwischen. Wegwischen bedeutet es kategorisch abzulehnen, zu leugnen und versuchen es rauszuschmeißen. Loslassen bedeutet es da sein zu lassen, zu beachten und gehen zu lassen. Eine solche Einstellung fühlt sich für mich nach einer liebevollen Einstellung an. Nach einer akzeptierenden, würdigenden, verständnisvollen. Nach der Richtung in die alles gute fließt, auch wenn dies wieder eine Wertung ist.

Ich ruhe.
Ich ruhe in meinem Körper,
kann atmen,
strecke meine Lunge,
in jeden Raum, den sie erreicht.
Da ist Platz in mir,
für Luft und Frieden.

Wie geht es dir,
wäre unpassend zu fragen,
denn gut oder schlecht,
wäre unpassend zu sagen.

Wie geht es einem Meer,
auf siebentausend Metern Tiefe,
wenn der Wind die Oberfläche streichelt
und ein Schwarm Silberfische lautlos vorbeizieht?
Gibt es überhaupt Silberfische?

Wie fühlt es sich an,
in einem dünnen Kleid
auf der Krone einer Eiche zu balancieren,
während es leise nieselt
und ein Falke seine Kreise zieht?

Es fühlt sich nicht gut und nicht schlecht an,
es fühlt.

Ich fühle mich,
merke wie Bewegungen zu Wellen werden,
schwappen und vergehen.
Ich versuche die Balance zu halten,
ich atme tief wenn Gefahr nah kommt,
beruhige noch einmal meinen Bauch,
bevor ich die Wohnung betrete,
meinen Vater sehe,
die Anspannung spüre,
aber sie gehen lassen kann.

Ich passe auf mich auf,
wenn meine Mutter mit mir spricht,
ihr Gesicht scheint mir klar,
ich sehe die Tränen,
die sie weinen will,
aber es lässt.

von mir, Sommer 2020

Ich kann also mit meinen bewussten Gedanken meine Gefühle steuern und diese Fähigkeit kann sehr hilfreich sein (z.B. um sich aus schweren Mustern, wie Depressionen zu befreien). Wenn sie aber Überhand nimmt und die Gefühle herabwürdigt, ihnen nicht mehr zu hört, sondern alleine versucht alle Kontrolle zu übernehmen, führt das zu nichts Gutem. Es passt sehr zu einer Kultur, in der das männliche über das weibliche, das rationale über das emotionale gestellt wird. In der Kontrolle besser ist als Vertrauen und Menschen denken, sie wären mit ihren rationalen Ideen klüger als die Natur.

Für manche Menschen ist der wichtige Prozess zu lernen, dass sie ihre Gefühle beeinflussen können. Dass sie dem nicht ausgeliefert sind und ihr Glück nicht von ihren Umständen abhängt. Für mich ist es meinen Gefühlen zu vertrauen und sie als verlässliche Informationsquelle anzuerkennen. Und einen Zustand zu etablieren, in dem ich grundsätzlich offen bin und meine Gefühle fließen lasse, ohne mich davor zu scheuen sie zu fühlen.


Was denkst du? Gab es Stellen, an denen du Widerstand empfunden hast? Was für Erfahrungen hast du gemacht und zu welchen Schlüssen haben sie dich geführt?

Wie findest du es diesen Raum auch für solche Texte zu nutzen?

Ich freue mich über Kommentare!

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