Sein letzter Atemzug

„Er atmet genau alle vierzig Sekunden.“, sage ich, nachdem ich verwundert diese Regelmäßigkeit feststelle. Meine Schwester lächelt schwach. „Das habe ich auch gerade gezählt.“ 

Unser Vater hat sich auf den Weg gemacht. Wohin wissen wir nicht. Aber fort von hier, von uns, von dem was wir Leben nennen. Wir sitzen mit zwei unserer weiteren Schwestern und unserer Mutter im Wohnzimmer, wo er auf einem Bett liegt und nur noch alle vierzig Sekunden einen langen Atemzug macht. Dann ist wieder vierzig Sekunden lang Stille und wir wissen nicht, ob der letzte Atemzug wirklich der letzte war oder ob noch einer kommt. „Genau diese Situation wird in vielen Filmen und Geschichten dargestellt, wenn alle Angehörigen schon in Tränen ausbrechen und der Opa plötzlich doch wieder zu sprechen anfängt.“, meint meine Mutter und wir müssen alle lachen. Leise, um die Ruhe nicht zu stören, um unseren Vater nicht zu stören. Während wir lachen, wird mir die Absurdität dieser Situation bewusst und ich bin auf merkwürdige Weise dankbar, das zu erleben. 

Irgendwann werden die Abstände zwischen den einzelnen Atemzügen länger und mir wird klar, uns allen wird klar, dass es sich nur noch um Minuten handelt. Ich frage mich, was gerade in ihm vorgeht. Was er spürt. Sieht er ein Licht? Zieht sein Leben in Bildern an ihm vorbei? Hört er uns, wie wir leise miteinander sprechen, wie wir uns auf das Sofa neben ihn setzen und uns in den Armen liegen? Hat er Angst? Seine Gesichtszüge sehen jetzt friedlich aus. Noch vor ein paar Stunden hat er immer wieder ein lautes Stöhnen von sich gegeben, als hätte er Schmerzen. Danach erklang bei jedem Atemzug ein lautes Röcheln. Sterben scheint anstrengend zu sein. Vielleicht die letzte Anstrengung. 

Seit fast sechs Wochen wissen wir, dass er sterben wird. Der Tod hat es sich in seinem Gehirn gemütlich gemacht, breitet sich aus und möchte ihn gerne mitnehmen. Irgendwann konnte er nicht mehr laufen, nicht mehr sitzen und kaum mehr sprechen. Lachen konnte er noch erstaunlich lange. Und Witze reißen, wie sich das für einen Vater gehört. Aber die meiste Zeit war es nicht witzig, die meiste Zeit war es nicht zum Lachen. Einen geliebten Menschen ohne Vorwarnung zu verlieren, muss unfassbar hart sein. Aber zu sehen, wie das Leben aus dem eigenen Vater oder Mann langsam verschwindet, bis irgendwann kaum noch etwas übrig ist, ist auch hart. 

„Was mach‘ ich denn da ohne euch?“, fragte er uns einige Tage vor seinem Tod und in seinen Augen habe ich die Angst gesehen. Ein Mann, der sich nicht gegen sein Schicksal wehrt, aber der Angst hat, diese eine Sache zu tun, von der keiner weiß, wie sie geht. 

Aber jetzt sieht er friedlich aus. Und jetzt bin ich mir sicher, dass es der letzte Atemzug war. Und trotzdem hofft etwas in mir weiter. Auf einen weiteren Atemzug. Nur noch einen, bitte. Oder auf ein Wunder. Nach einer Weile stehe ich auf und nehme seine Hand, die noch ganz warm ist und sich anfühlt, wie immer.

Autor*in: ninapasseri

Singend schreibend suchend der Welt begegnen Meine Musik: https://t.me/musikderlandschaft (Oder Nina Passeri auf SoundCloud und YouTube)

2 Gedanken zu „Sein letzter Atemzug“

  1. Liebe Nina, es berührt mich wie du deine und eure Geschichte erzählst und teilst.
    Es bringt mich dir ganz nah und weckt in mir Trauer, und Ehrfurcht, vor der Größe dieses Moments von dem du hier erzählst.
    Und wortlosigkeit ist auch da – wie geht es, im Anbetracht dessen was passiert ist, zu dir zu schreiben?
    Wortlosigkeit, Tränen und Wärme sind in mir zu dir. ❤️

    1. Hm, danke für deine Worte Julie und schön, dass dich die Erzählung erreicht hat. Ich bin immer noch sehr dankbar diesen Moment erlebt haben zu dürfen.
      Warme Grüße zu dir <3

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