BEILÄUFIG

Ich denke beiläufig daran, wie es ist, sich mit einer Schere zu erstechen und probiere es gleich mal aus: es klappt nicht – die Schere ist zu stumpf – und hinterlässt nur einen blauen Fleck an meiner unteren rechten Rippe, der mir lange Zeit das Lachen schwermacht. 

Ich bin ein bisschen frustriert, normalerweise kann ich meiner Intuition vertrauen! Es stimmt mich nachdenklich, dass das mit der Schere nicht so einfach geklappt hat.

Ich recherchiere HÄMATOM: Ursachen undFolgen. Ich gleiche meine Recherche mit meinem Körper ab: die verschiedenen Farbtöne, die Größe, die Form. Passt! Eindeutig blauer Fleck. Fürsorglich pflege ich ihn, wie ein kleines Kind, auf das man aufpassen muss, dass regelmäßige Streicheleinheiten von sanften Händen braucht.

Einmal hast du mich beim Eincremen erwischt und mich fragend angeschaut. Du kamst vom Studium nach Hause und hast mich im Bad überrascht. Ich war dabei Selbstgespräche mit meiner Rippe zu führen, mit dem kleinen Kind in mir. Ich habe gesagt: „Ich bin wo gegen gelaufen“, als Erklärung. Etwas Besseres ist mir auf die Schnelle nicht eingefallen. Und von der Idee mit der Schere, wollte ich nicht erzählen. Du hast nur die Stirn gerunzelt und gesagt, falls das stimmt, müsste ich doch mehr Verletzungen haben. Richtig interessiert hat es dich nicht. 

Wenn ich danach gelacht habe mit dir, hat es wieder weh getan. Mehr noch in meinem Kopf, als im Brustkorb.

Die Schere habe ich übrigens zwei Tage später weggeschmissen. Taugte ja offensichtlich nichts. 

Doch vor Wochen hast du mich mal gefragt, ob du sie dir ausleihen könntest, du bräuchtest sie fürs Studium. Du sagtest, du müsstest was schneiden: jetzt schnell, dringend! Ich konnte dir nicht helfen. Das hat mir leidgetan. Ich habe dir angeboten das Taschenmesser zu nehmen. Du fandst es unfair. Ich habe daraufhin mehrmalsversucht wieder eine Schere zu kaufen: ich war im Bastel-Geschäft und beim Schreibwarenladen. Aber ich hatte ein bisschen Angst … deswegen habe ich keine besorgt. Stattdessen brachte ich dir Füllfederhalter und Postkarten mit. Du hast die Sachen wahrscheinlich kaum benutzt. Zumindest habe ich nie Post von dir bekommen. Schade eigentlich.

Aber wir haben dann eh den Kontakt verloren – du versunken in deinem Kopf, ich verwundet + verwundert in der Welt –.

Ich habe mir eine Vollzeitstelle als Verkäuferin gesucht. Den Großteil meiner Habseligkeiten habe ich bereits verkauft, das meiste über Kleinanzeigen. Das hat erstaunlich gut geklappt. Ich habe auch kurz überlegt, mich selber zu verkaufen. Aber ich war dann doch unsicher. Ich wüsste nicht wohin mit dem ganzen Geld, und überhaupt, Hämatome sehen auch nicht hübsch aus.

Stattdessen habe ich alles andere weggegeben, nur das Taschenmesser von Dir habe ich behalten. Unfreiwillig, niemand wollte es haben. Aber ich glaube, es ist ganz gut etwas zum Schneiden im Haus zu lagern. Jetzt liegt es in meiner Nachtischschublade, immer griffbereit.

Genau wie der fünfzig Euro Schein, mein Notfallgeld für wenn’s mal eng wird. Ich fasse den Schein gerne an, ich rieche auch gerne dran und manchmal, wenn mir langweilig ist falte ich einen kleinen Kranich daraus.

Seit ich arbeite, schiebe ich Tag für Tag Gegenstände über das Band und Menschen bezahlen alles bereitwillig mit ihren Plastikkarten. Es heißt, das wäre fortschrittlich und modern, aber ich finde es ein bisschen geschmacklos – wortwörtlich – und fad. Als Verkäuferin darf man ganz ungeniert Leute beobachten und bewerten, man wird sogar dafür bezahlt. Kundenorientiertheit und Verkaufsförderung heißt das bei uns. Ich mache mir ein Bild von den Menschen: in meiner Fantasie weiß ich genau wer sie sind und für wen sie einkaufen. Einmal bist du auch in den Laden gekommen, ausgerechnet an meine Kasse. Du hast mich nicht erkannt. Ich wusste sofort, dass du einsam bist, als ich deinen Einkauf scannte: vier Sorten Marmelade und die extra Tube Zahnpasta haben dich verraten. Ich wollte dir etwas Tröstliches mit auf den Weg geben, aber mir ist nichts Passendes eingefallen. „Vielen Dank, dass Sie sich für uns entschieden haben.“ sagte ich. „Kommen Sie bald wieder.“, eher beiläufig. Du warst eh mit deinem Handy beschäftigt.

Ich habe lange darüber nachgedacht, ob es Zufall war, dass du in unseren Laden gekommen bist. Das würde zu dir passen, du bist eher so der absichtslose Typ. Absichtslos und rücksichtslos.

Vielleicht hätte ich früher mal mit dir reden sollen.

Ich habe dir verschwiegen, dass ich vorhatte auszuziehen, schon bevor mir die Schere in die Hände viel. Das tut mir leid, im Nachhinein. Aber es fällt mir immer noch schwer zu erklären, warum ich ausgerechnet in deiner Nähe immer verrückt geworden bin. 

Jetzt geht es mir zumindest besser.

Autor*in: Mariko

les petits anges ne sont pas tous tendres - jean dubuffet ich versuche mich am schreiben, manchmal zeichnen, manchmal bunt. über ideen, anregungen, hinweise zu ausstellungen, projektreihen etc. freuen wir uns immer. please feel free to contact.

4 Gedanken zu „BEILÄUFIG“

  1. Hab sie mir heute noch mal vorlesen lassen, mithilfe der Aufnahme von dir. Bin versunken. In schweren Worten ummantelt von leichten Beschreibungen. Danke dir – bin froh das sie hier wohnt und frage mich, ob du in letzter Zeit geschrieben hast? Lieben Gruß <3

  2. Wow. Der Stil, die Anordnung der Sätze, die wechselnden Stimmungen, die ausgesprochenen und nicht ausgesprochenen Dinge (Gedanken, Gefühle, Umstände). Und beeindruckende Zeichnungen. Tragen das Gefühl der Geschichte weiter. Diese Unschuld, fast Naivität, gleichzeitig beeingende Schwere. Zusammen erträglich. Und schön. Berührend. Herzöffnent (nicht wörtlich, dank stumpfer Schere).

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