WOHNUNG GANZ IN WEIß

Manche sagen, die Wohnung unseres Chefs sei ganz in Weiß eingerichtet. Aber das stimmt nicht, ich war ja bei ihm, als er mich angefasst hat:

da hing ein staubiges Barock Gemälde an der Wand, Kerzenleuchter standen auf dem Tisch und „atemlos“ tröpfelte aus dem Plattenspieler.
Tatsächlich ist die Wohnung ganz anders, als sich alle immer ausmalen: Pappelsamen lauern in den Ecken, Spinnenweben hängen an der Decke und Staubflocken krabbeln über den Teppich – fast schon verwunschen. Das traut man unserem Chef gar nicht zu. Der sieht aus wie ein Theoretiker ohne Emotionen und mit klarer Struktur.

Ich habe mich immer gefragt, was seine wahre Leidenschaft ist. Jetzt weiß ich es: Poesiebilder sammeln! Das hat er mir erzählt, als ich bei ihm war. Er hat mir zwei seiner zehn Alben gezeigt. Sie sind nach Themen sortiert: Rosen, Reliefs, Stammbuchblümchen, Liebesmarken und Decoupage-Papier mit verschiedenem Muster. Ich habe so getan als wenn es mich interessiert und ihm beim Durchblättern über die Schulter geschaut. In einem der Glanzbilderalben war ein Foto zwischen die Seiten geklemmt, schwarz-weiß, geschossen mit einer analogen Kamera. Da waren nackte Kinder drauf. Seine eigenen, meinte er. Ich wusste gar nicht, dass er Familie hat. Er hat die Seite schnell wieder zugeschlagen, als wenn es ihm unangenehm wäre. Kaum zu glauben, dass sich eine Frau ernsthaft auf unseren Chef einlässt. Aber vielleicht kenne ich ihn auch einfach nicht gut genug.

Nachdem ich mir die Schuhe wieder angezogen hatte, gab er mir ein Schokobonbon und eine heiße Milch mit Honig im Pappbecher: für unterwegs, damit ich zu Hause gut schlafen könnte. Ich habe die Milch in den Gulli gekippt und das Schokobonbon gegessen. Auf dem Weg nach Hause ist mir schlecht geworden und ich musste mich übergeben. Braune, klebrige Masse. Sie suppte ein bisschen in dem durchweichten Becher umher. Die Leute in der U-Bahn haben komisch geguckt, ich habe den Pappbecher abgestellt, bin zwei Stationen früher ausgestiegen und den Rest nach Hause gelaufen. Meine Knie waren schwammig, wie wenn man auf nachgebenden Untergrund läuft.

Am nächsten Tag bei der Arbeit war ich ein bisschen verschlafen und unkonzentriert. Der Chef kam zu mir und hat frische Tintenpatronen vorbeigebracht. Dann ist er wieder in sein Büro gegangen. Ich habe beschlossen die Behandlungsräume neu zu dekorieren und kleine Faltgirlanden aus buntem Papier gebastelt. Lauter Scherenschnittketten aus Kindern die sich an den Händen halten. Die Technik haben wir mal in der Grundschule gelernt. Irgendwann ist der Chef dann noch mal rein gekommen und hat mich lange angesehen, seine Brille zurechtgerückt und sich ans Fenster gestellt. Man hat einen tollen Ausblick von unserer Etage aus. Weil wir das oberste Stockwerk für uns haben und das höchste Gebäude im Umkreis sind, kann man bis zum Waldrand sehen. Er hat das Fenster aufgemacht, seine Brille rausgeworfen und gesagt „Ich brauche eigentlich keine, das war nur Fassade.“. „Fassade wofür?“, habe ich gefragt, aber da ist ein Arbeitskollege reingekommen und hat unser Gespräch unterbrochen. Der Chef hat die Stirn gerunzelt, seine Lippen gekniffen, eine Schnute gezogen und ist dann wie ein beleidigtes Kind dem Arbeitskollegen nach draußen gefolgt. Ich habe sie vom Fenster aus beobachtet.

Er scheint etwas einsam zu sein, unser Chef. Er wirkt zwar zielstrebig bei der Arbeit aber ich glaube sein Privatleben ist eher gezwungen und zerfahren. Während der Chef mit dem Arbeitskollegen weg war, bin ich zu ihm ins Büro geschlichen und habe nach Anzeichen von einer Familie gesucht. Aber da war nichts: kein Bild, kein Schlüsselanhänger, kein Post-It-Zettel von seiner Frau, keine geschmierten Butterbrote und keine liebevoll aufbewahrten Kinderbasteleien im Geheimfach unter dem Schreibtisch.
Nur den Büroschlüssel habe ich gefunden und eingesteckt – zur Sicherheit – und ihm einen Loli auf den Tisch gelegt. Ich hatte ein bisschen Mitleid. Mit ihm und mit mir selbst. Sein Schreibtisch ist penibel geordnet: die Büroklammern liegen aufgebogen, als lange Metallstifte nebeneinander. Der Chef biegt sie sich bei Bedarf selbst zurecht, die maschinell gefertigten Klammern sind ihm nicht präzise genug. Er verwahrt seine Tintenpatronen in einer rechteckigen Schachtel, in die genau einhundert Stück passen und sammelt die kleinen Verschlusskügelchen in einem geschwungenen Glas, dass dreißig Zentimeter von der linken Tischkannte entfernt steht. Es sind bestimmt schon mehr als zweitausend Kügelchen. Das Glas ist sein heiliger Schatz, so etwas wie seine Trophäe, sein Sieg über die Unproduktivität.
Zwischen Metallstifte und Tintenpatronen legte ich den Loli. Danach holte ich eine Girlande und spannte sie über die Schreibtischlampe.
Kein Körnchen Staub auf dem Boden – ich ließ das Licht eingeschaltet. Anschließend hab‘ ich die Tür abgeschlossen. Extra, damit die Putzfrauen nicht versehentlich etwas verrücken. Sollte ja alles eine Überraschung sein, mit Licht, für den nächsten Morgen.

Der Chef ist nicht wiedergekommen, an diesem Tag, deshalb habe ich beschlossen auch zu gehen. Ich habe seinen Schlüssel mitgenommen und bin zu mir nach Hause gefahren.
Ein kleines Apartment mit Stufen vor der Eingangstür und einem Notsignalschalter. Wenn man den drückt, dann kommt angeblich die Feuerwehr. Aber ich habe es ehrlich gesagt schon zweimal ausprobiert und nichts ist passiert.
Das eine Mal ist mir der Kompass mit Glasgehäuse zerbrochen und das andere Mal war meine Katze verschwunden. Beides Notfälle würde ich sage: ohne Kompass bin ich schließlich orientierungslos in der Welt und meine Katze … ja. Die habe ich am nächsten morgen tot vor meiner Haustür wiedergefunden. Angefahren wahrscheinlich. Ich wollte sie später am Abend wegräumen aber da war sie nur noch ein zermatschtes Fellkneul. Das hat sich für eine Beerdigung nicht mehr gelohnt. Stattdessen habe ich eine Barbiepuppe von mir in dem Loch vergraben – als Beweis dafür, wie erwachsen ich nun bin.

Wie dem auch sein, aus einem Lebensratgeber weiß ich sowieso: „Dass man auf sich selbst aufpassen muss.“ Das macht kein anderer für einen. Auch nicht die Feuerwehr.

Normalerweise lese ich abends noch eine Seite in dem Ratgeber, aber heute war ich zu verwirrt um mich auf Buchstaben zu konzentrieren. Ich holte stattdessen meine Krimskramskiste hervor und machte mich daran, einen Schlüsselanhänger zu basteln. Blau, mit Federn und Perlenketten. Ich finde, er ist ganz hübsch geworden. Ich hängte ihn an den Schlüsselbund von meinem Chef und legte mich Schlafen. Zurzeit schlafe ich auf der Couch, die Scherben vom Glaskompass im Schlafzimmer habe ich noch nicht weggeräumt.

Ich wachte um 04:30 auf, beobachtete das Buch neben meinem Bett und schlief wieder ein, bis das Handyklingeln mich weckte. Ich ging ran, es war der Chef – wer sonst ? – und er brüllte mich an. Ich legte das Telefon beiseite, putzte Zähne und packte meine Tasche für die Arbeit: drei Scheren und zwei Stapel buntes Papier. Im Auto fiel mir ein, dass mein Handy noch in der Küche schlummerte, aber es war zu spät um noch mal umzudrehen.

Bei der Arbeit stand der Chef ungeduldig vor seinem Büro und rüttelte an der Tür wie trotziges Kind. Ich reichte ihm seinen Schlüsselbund und verschwand auf der Toilette. Ein Arbeitskollege kam mir nach und schaute mich verschwörerisch an. „Na wie war‘s?“ fragte er. „Wie war was?“ fragte ich verständnislos, aber bevor der Kollege sich erklären konnte, stand auf einmal der Chef im Türrahmen. Er musterte uns von oben bis unten, wir schauten beide betreten zu Boden. „Waren Sie das?“ und ich nickte zaghaft. „Ok.“, erwiderte er und drückte mir einen Zettel in die Hand.

Ich schloss mich in einer Toilettenkabine ein und faltete das Papier auseinander. Da Stand: „Ich lade Sie ein. Heute Abend. Es fehlen noch acht Glanzbilderalben.“

Ich schluckte, drückte die Spülung und schlüpfte in mein Büro. Ich schloss die Tür und starrte aus dem Fenster. Die Brille war futsch. Ich wollte jemanden anrufen und davon erzählen, aber mein Handy lag rechts neben dem Toaster, zu Hause. Vielleicht würde ich das später am Abend noch machen.

Ich öffnete das Fenster, ein Windhauch kräuselte mein Haar und mit ihm herein wehte ein Schwung Pappelsamen. Ich versuchte nach ihnen zu haschen. Ich sprang durch das Büro, halb genervt, halb vergnügt.

So ist er, mein Chef und seine Wohnung ist nicht weiß.

Autor*in: Mariko

les petits anges ne sont pas tous tendres - jean dubuffet ich versuche mich am schreiben, manchmal zeichnen, manchmal bunt. über ideen, anregungen, hinweise zu ausstellungen, projektreihen etc. freuen wir uns immer. please feel free to contact.

Ein Gedanke zu „WOHNUNG GANZ IN WEIß“

  1. Du bist so cool!
    Schön, wie man nach dem Anfang etwas ganz anderes erwartet, und du aber einen überrascht und etwas neues machst! Ich war am Ende ein bisschen durcheinander, was mir sehr gefällt. Ich weiß nicht was ich fühlen soll.
    Falls du das ein bisschen wolltest: Bravo! <3

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